Noch ein Artikel ohne EHC-Bezug, dafür umso ernsthafter und regt den einen oder anderen sicherlich zum Nachdenken an: Teil 1
Depressionen im Sport
«Und dann dachte ich: Es wäre einfacher, nicht mehr hier zu sein»
Eishockeyspieler Perttu Lindgren spürte schon immer, dass etwas nicht stimmt. Aber Hilfe suchte er keine – bis nichts mehr undenkbar schien. Jetzt will er aufrütteln.
Perttu Lindgren weiss, dass für seine Geschichte nicht alle Verständnis haben werden: Wer an Athleten denke, denke auch an Glamour und gerade bei Eishockey vor allem an die tollen Spiele. Und an Toughness. Und wenn er sagt, dass es «natürlich das Beste ist, wenn du das tun kannst, was du liebst», dann weiss er auch, dass das, was er erzählen will, von vielen bloss als Gejammer wahrgenommen werden wird.
Dass er seinen Sport liebt, steht ausser Frage. Der Mittelstürmer liebte das Spiel schon als Jugendlicher so sehr, dass er sich nur darüber definierte. Und jedes Mal, wenn er schlecht spielte, sagte ihm seine innere Stimme: Du bist ein schlechter Mensch. Ohne Eishockey wirst du nichts mehr wert sein.
Man gab diese Werte weiter: Nicht klagen!
Diese Gedanken blieben bis heute Weggefährten. Als Teenager und auch die Jahre danach konnte er damit umgehen. Dachte er zumindest. Eigentlich tat er das: Schweigen. Verdrängen. Alles in sich hineinfressen. Auch, weil das in seiner Umgebung in Tampere normal war, sagt Lindgren: «Es ist auch ein wenig finnisch, wenn du so aufwächst: Behalte alles in dir drin, rede nicht darüber.»
Lindgrens Vater wurde 1947 geboren, kurz nach dem Ende des 2. Weltkriegs, er bekam diese Werte von seinen Eltern vermittelt, er gab sie an seinen Sohn weiter: nicht klagen. «Mein Grossvater war im Krieg, er hatte Granatensplitter im Rücken», erzählt Lindgren. «Da gehst du doch nicht zu ihm und klagst, es gehe dir schlecht. Du öffnest dich nicht jemandem, dem es noch schlechter geht.» Also schwieg er.
Er schwieg auch, nachdem er vor 15 Jahren Karoliina kennen lernte, er 18, sie 22. Die beiden leben heute mit ihren vier Kindern in Davos, wo er ab 2013 für den HCD spielte und 2016 zum besten Spieler der National League gewählt wurde, bis er im Januar 2021 nach Biel transferiert wurde. «Ich wusste sofort, sie ist die Richtige», sagt Lindgren. Dennoch sprach er auch mit ihr nicht darüber, wenn es ihm schlecht ging.
Sie begleitete ihn zwei Mal für ein Jahr in die USA, wo er für das Farmteam der Dallas Stars spielte, dazwischen kehrten die beiden für ein Jahr nach Finnland zurück, weil er sich beim ersten Anlauf in der AHL schlecht und fremd fühlte und er sich mit den Stars für eine Ausleihe nach Rauma einigen konnte. Dort erlebte er ein Jahr Abstiegskampf in Extremis, das Team rettete sich erst im letzten Saisonspiel.
In dieser Zeit lernte er, mit diesen Gedanken zu leben: Wir spielen schlecht, ich spiele schlecht, ich bin ein schlechter Mensch. «Ich merkte erstmals, dass etwas wirklich nicht stimmt mit mir», sagt Lindgren. Es blieb aber dabei: Verdrängen, nicht darüber reden. Wenn es ihm auf dem Eis lief, half es dem Kopf, er hangelte sich durch, von gutem Spiel zu gutem Spiel, Jahr für Jahr.
Teamkollegen einweihen? Lindgren winkt ab: «Du willst sie nicht runterziehen, willst keinen schlechten Einfluss auf sie haben.» Wissen seine früheren Mitspieler in Davos von seinen Problemen? Lindgren überlegt und sagt: «Ich glaube nicht. Das wird auch für sie eine Neuigkeit sein.»
Die andere Version vom Abgang aus Davos
Es mutet im Nachhinein ironisch an, dass der HCD Anfang Januar 2021 sich nach mehreren gescheiterten Versuchen durch Trainer Christian Wohlwend, die Situation zu verbessern, von ihm trennen und ihn nicht mehr im Training haben wollte. Grund: Lindgren ziehe mit seiner Art die Mannschaft nach unten – das zumindest ist das Narrativ in Davos. Lindgrens Story geht so: «Ich hatte nur mit dem Trainer Probleme, mit niemand anderem. Ich war es, der wegwollte.»
Und damit sind wir beim für Lindgren entscheidenden Punkt: Hilfe suchen. Um sich überwinden zu können, brauchte es die Gehirnerschütterung im vierten Spiel mit Biel Ende Januar. Seine erste, die aber so schwer war, dass seine dunkelsten Tage begannen.
Und plötzlich ist die Lust weg. An allem.
Lindgren wohnte alleine in Biel, Ehefrau und Kinder waren in Davos geblieben, sie besuchten ihn jeweils am Wochenende. Er hatte Zeit für viele Gedanken, nicht alle waren gut und vor allem nicht rational für Menschen ohne seine Probleme. Das Gefühl der Wertlosigkeit. Die Scham, nach nur vier Spielen nichts mehr für das neue Team tun zu können. Dann die Panikattacken, gefolgt von totaler Gleichgültigkeit. Am Morgen starrte er nur noch auf sein Frühstück und dachte, dass das eh nichts bringe. Irgendwann dann fand er: «Es wäre einfacher, nicht mehr hier zu sein.»
«Ich wollte auch die finnischen Kollegen in Biel nicht belasten. Und Antti machte sowieso etwas ganz anderes durch.»
Perttu Lindgren
Jetzt handelte er. Lindgren hatte kaum mit jemanden in Biel darüber gesprochen, auch nicht mit den Landsmännern, ausser ganz kurz mit Petteri Lindbohm. Die anderen, Toni Rajala und vor allem den an Krebs erkrankten Trainer Antti Törmänen, liess er in Ruhe. «Ich wollte sie nicht belasten. Und Antti machte sowieso etwas ganz anderes durch.»
Dafür kontaktierte Lindgren Tommi Kovanen, einen früheren Teamkollegen in Rauma, von dem er wusste, dass er mit gleichen Problemen gekämpft hatte. Kovanen war nach einem Suizidversuch im Spital aufgewacht, schrieb danach Bücher über sein Schicksal. Und Lindgren rief seinen finnischen Therapeuten an. Vor allem entschied er sich, erstmals richtig ehrlich mit ihm zu sein.
Sein Therapeut ist Tuomas Grönman, selbst ehemaliger Eishockeyspieler. Für mehrere finnische Medien war er Auskunftsperson während der Olympischen Spiele in Tokio rund um die Turnerin Simone Biles. Grönman sagt: «Spitzensportler sind besonders anfällig für Depressionen und Angstzustände.» Seit 2013 hatte Lindgren mit Grönman in losen Abständen zusammengearbeitet. Er hatte ihn erstmals kontaktiert, als er aus der russischen KHL nach Davos gewechselt hatte.
Lindgren hatte die Saison zuvor bei einem Moskauer Vorortsclub begonnen, war dann via Spielertausch in Chabarowsk und damit nahe der russischen Grenzen zu China und Nordkorea gelandet. Die Einsamkeit, weil die Familie nicht immer bei ihm war, aber auch die für europäische Verhältnisse grotesk anmutenden Reisen für die Handvoll ganz im Osten Russlands beheimateten KHL-Clubs – beides hatte Lindgren und seinen Problemen nicht geholfen.
Lindgren und Grönman hatten zwar jahrelang miteinander Kontakt, doch erst jetzt machte er wirklich reinen Tisch. Ein Depressions-Schnelltest bestätigte die Vermutung des Therapeuten: Lindgren landete in der zweithöchsten Stufe «ziemlich ernsthaft», wie es Lindgren formuliert. Weitere Tests später hatte er die Gewissheit darüber, was er schon immer vermutet hatte, sich aber nicht zugestehen wollte: Er leidet an Depressionen.