Ein Tagi-Interview mit Blindi:
Simon Graf
Publiziert: 04.10.2021, 19:59
Teil 1/2
Da gerate ich gleich wieder in Träumereien, wenn er von Jursinov und diesen Zeiten spricht.
Severin Blindenbacher nimmt Abschied
«Dann brausten sechs Polizisten auf Motorrädern auf mich zu»
Als kleiner Junge träumte er nie von einer Hockeykarriere. Nach 20 Jahren als Profi blickt Severin Blindenbacher (38) zurück auf die schönsten, bittersten und skurrilsten Momente.
Sie verschickten zu Ihrem Abschied Postkarten an Menschen, die Ihnen in Ihrer Karriere begegnet sind. Wie viele haben Sie versendet?
Das kann ich nicht genau sagen. Ich bin auch immer noch dran. Ich habe nicht jedem eine Karte geschickt. Aber den wichtigsten Leuten aus den bedeutenden Stationen. Es war eine Schnapsidee, dann sagte ich es so nebenbei einer Künstlerin, und sie fand es genial und gestaltete die Karte. Die Aktion kam gut an bei den Leuten. Einige meldeten sich und bedankten sich, Wladimir Jursinow hat beispielsweise angerufen. Er hatte grosse Freude.
Waren diese Karten auch ein Teil Ihrer Verarbeitung?
Deshalb tat ich es. Und damit kann ich das Kapitel Eishockey langsam abschliessen.
Wer hat Sie am meisten geprägt, berührt in all den Jahren?
Hockeytechnisch war das definitiv Jursinow. Einige 100 Spieler haben ihm ihre Karriere zu verdanken. In der Schweiz mindestens 30. Eine Zeit lang hätte man locker ein Team dieser Spieler aufs Eis gebracht. Mit Emanuel Peter, Martin Höhener, Gianni Ehrensperger und wie sie alle heissen.
Jursinow trieb Sie als Junior in Kloten an Ihre Grenzen. War es eine Hassliebe?
Eine Zeit lang schon. Er liebte uns alle, wie ein Grossvater. Aber er verlangte auch extrem viel von uns. Unter ihm nahm Eishockey sehr viel Zeit in Anspruch. Bei den Kanadiern wärmst du 30 Minuten auf, trainierst und gehst dann wieder nach Hause. Bei ihm war es so: Zuerst absolvierten wir den Vita-Parcours und umarmten alle Bäume, dann folgten eine Stunde im Kraftraum und zwei auf dem Eis. Dazu hörten wir klassische Musik …
… klassische Musik?
Ja, manchmal liess er dazu klassische Musik laufen. Er wollte die Schönheit, die Eleganz der klassischen Musik aufs Eis transferieren. Und fürs Mittagessen hätte er am liebsten Spaghetti für die Garderobe organisiert, damit wir hätten dortbleiben können, um nachmittags gleich wieder loszulegen. Was er nicht checkte: Wir wollten alle nur noch nach Hause und schlafen. (lacht) Er hatte unheimlich hohe Erwartungen an uns, speziell an mich. Er fand, ich müsse mit 17, 18 gleich gut sein wie Marko Kiprusoff, der gerade aus der NHL kam. Unter diesem Druck zerbrach ich zeitweise. Aber eben: Wer durch seine Schule ging, machte seinen Weg.
Sie bestritten im Januar 2020 Ihr letztes Spiel …
… am 14., richtig.
Sie konnten sich also schon länger aufs Karriereende vorbereiten. Gab es trotzdem einen Moment, in dem es Sie nochmals einholte?
Der speziellste Moment war, als mich Sekretärin Nicole Brechbühl aus dem Chat der ZSC Lions entfernte. So zwei Wochen nach der Saison. Da wurde mir so richtig bewusst: Wow, jetzt ist es fertig! Ich weiss noch: Es war kein so guter Tag, ich sass bei mir auf dem Balkon und wusste nicht genau, was ich noch tun sollte. Ich öffnete ein Bier, und dann kam die Message, ich sei aus dem ZSC-Chat entfernt worden. Da wusste ich: Okay, tschau zäme! (lacht)
Wie stellten Sie sich als kleiner Junge Ihre Hockeykarriere vor?
Ich stellte sie mir nie vor, sie ergab sich einfach. Das Heldentum, das der Spitzensport auch hat, nahm ich nie so bewusst wahr. Meine Helden waren die Spieler des EHC Bülach, Urs Bärtschi und Co. Nie die Stars der Nationalliga A. Ich wollte einfach Hockey spielen, weil es mir grossen Spass machte. Mit 14 ging ich ins Probetraining beim EHC Kloten und merkte: Da weht ein anderer Wind! Dann ging es relativ schnell, plötzlich war ich Profi.
Was bleibt Ihnen am meisten in Erinnerung?
Der Zusammenhalt in der Mannschaft, in einem Kollektiv zu sein, wo alle gleich denken, die Hierarchie klar ist, jeder weiss, was er zu tun hat. Und natürlich, zusammen zu gewinnen. Das ist das Schönste! Von Bülach bis zum Titel in der Champions League, es fühlte sich immer ähnlich an. Dieses Gefühl nochmals zu erleben, spornte mich stets an.
Sie wurden mit den ZSC Lions viermal Meister, gewannen die Champions League, holten WM-Silber. Was sticht heraus?
Schon der erste Meistertitel, 2008 im Hallenstadion gegen Servette. Natürlich die Champions League. Und die U-18-WM in Finnland (2001), wo wir Silber holten.
«Wenn die Schweden nicht Spieler hätten nachmelden können, hätten wir sie im WM-Final so richtig weggeputzt.»
Und WM-Silber bei den Grossen 2013 in Stockholm?
Ja klar, aber diesen Final hätten wir schon sehr gern gewonnen. Wenn die Schweden nicht die Möglichkeit gehabt hätten, Spieler nachzumelden, hätten wir sie so richtig weggeputzt. Davon bin ich überzeugt. Die hätten keine Chance gehabt! Aber die beiden Sedins und Loui Eriksson machten dann den Unterschied. Es war trotzdem mein schönstes Turnier. Spiel- und Trainingsplan waren so gut aufeinander abgestimmt, das Wetter stimmte in Stockholm, wir konnten jeden zweiten Tag etwas unternehmen, in der Stadt spazieren, shoppen gehen. Und auf dem Eis liefen wir durch, Josi trug uns in den Final. Schade, hat es am Schluss nicht gereicht. Es wäre zu schön gewesen, die Schweden in Schweden zu schlagen.
Apropos Schweden: 2009 wechselten Sie zu Färjestad, im folgenden Jahr spielten Sie bei den Texas Stars in der AHL. Wie waren diese Erfahrungen im Ausland?
Ich möchte sie nicht missen. Sie haben mich weitergebracht. Wenn nicht hockeytechnisch, so sicher menschlich. Ich wollte einfach mal weg von der Schweizer Liga, dann ergab sich Schweden. Da lernte ich eine ganz andere Kultur kennen, eine andere Herangehensweise ans Eishockey. Nicht so dieses Brachiale. In der Schweiz stehst du die ganze Zeit unter Druck. Leistung, Leistung, Leistung! In Schweden geht man diesen Sport ganz anders an. Wohl auch, weil er da zur DNA gehört. Es zählen nicht nur die Siege, der Weg ist das Ziel, es ist ein Prozess. Das provoziert viel weniger negative Emotionen.
«Die NHL war nie mein grosses Ziel gewesen. Wer weiss, vielleicht hat es auch deshalb nicht geklappt.»
Trotzdem zogen Sie nach einem Jahr weiter.
Ich hätte bei Färjestad bleiben können, hatte eine Option auf ein weiteres Jahr. Aber dann kam das Thema Nordamerika auf. Die NHL war nie mein grosses Ziel gewesen. Wer weiss, vielleicht hat es auch deshalb nicht geklappt. Jedenfalls kam ich dann plötzlich in dieser ganz anderen Welt an. Ich und die Amis oder die Kanadier, das passte nie so recht. Ich habe das Gefühl, die übertreiben mindestens um 50 Prozent. Ich war bei Dallas unter Vertrag, wurde bald mal abgeschoben ins Farmteam. Es klappte nicht so recht, zumal ich mich zweimal verletzte. Einmal krachte ich mit dem Kopf in die Bande, später hatte ich noch diesen Autounfall. Dann zog es mir den Boden unter den Füssen weg. Aber auch Nordamerika war eine spannende Erfahrung. Ich lebte in Austin, einer megacoolen Stadt, die ich gerne nochmals besuchen möchte.
Wie gravierend war jener Autounfall?
Ich wollte einkaufen gehen, es regnete heftig, ich geriet ins Schleudern und krachte voll in ein anderes Auto. Durch den Aufprall wurde ich gestoppt. Dann brausten sechs Polizisten auf Motorrädern auf mich zu, wie im Film, ein Krankenauto, ein Feuerwehrauto. Der Lenker des anderen Fahrzeugs war ein Fussballtrainer, ein Latino, er nahm es easy. Zum Glück hat es ihm nichts gemacht. Mir schmerzte der Nacken, ich war sowieso sensibilisiert wegen meiner Gehirnerschütterungen. Ich brach die Saison dann frühzeitig ab. Der ZSC hatte zu jener Zeit Mühe, wollte mich unbedingt zurückholen, und so war Nordamerika plötzlich weit weg. Ich hätte – im Nachhinein betrachtet – mehr investieren müssen, um dort drüben Fuss zu fassen und zu reüssieren.
Mit den ZSC Lions wurden Sie 2011/12 dann gleich wieder Meister unter Bob Hartley. Die Rückkehr zahlte sich aus.
Absolut. Unter Hartley wehte ein anderer Wind. Es tat dem Verein gut, dass einer kam, der genau sagte, wie alles laufen solle. Der auf jedes Detail achtete. Der sagte: Dieser Rucksack muss bestickt werden, da fehlt das Logo! Oder: auf keinen Fall Truthahn zum Essen, das gibt saure Beine! Es war eine kleine Diktatur. Aber das war nicht schlecht für den Club und auch nicht für die jungen Spieler, die extrem viel profitierten. Wie Geering, Schäppi, Kenins, Cunti, die beiden Baltisberger. Hartley hat sehr gut mit den Jungen gearbeitet. Und jetzt ist er mit Omsk ja wieder Meister geworden. Unglaublich! Er hat in jeder Liga, in der er war, den Titel geholt. Sein Schema X funktioniert.
Bereuen Sie etwas, wenn Sie auf Ihre Karriere zurückschauen?
Nein. Für mich war es gut so, wie es war.