In der Abwärtsspirale gefangen
Dominic Zwerger und Gilles Senn sind zwei 26-jährige Eishockeyspieler mit guten Karrieren. Doch plötzlich erlebten sie dunkle Stunden. Am Spengler-Cup erzählen sie.
Beim Spengler-Cup kann wieder gelacht werden: Davos-Goalie Gilles Senn (rechts) und Ambri-Stürmer Dominic Zwerger haben keine einfachen Zeiten hinter sich.
Als Gilles Senn und Dominic Zwerger an ihrem persönlichen mentalen Tiefpunkt angekommen waren, zeigte sich dies auf komplett unterschiedliche Weise. Was beiden gemein war: Ihre Reaktionen dürften von Aussenstehenden kaum als nachvollziehbar empfunden werden. Zwei 26-jährige Profisportler, die ihren Traum vom Eishockey auf höchstem Niveau leben können. Doch dann schliesst sich der eine ganze Sonntage lang zu Hause ein, will niemanden mehr sehen und ist überzeugt, wieder einmal alle enttäuscht zu haben: Fans, Familie, Mitspieler. Den anderen überfallen schwere Panikattacken, an mehreren Abenden ist er sicher, die Nacht nicht zu überleben.
Senn ist Goalie beim HC Davos. Nach seiner Rückkehr aus Nordamerika 2021 bildet er bei den Bündnern ein Goalie-Duo mit Sandro Aeschlimann. Zunächst den Grossteil der Spiele bestreitend, verliert er schon bald seinen Platz an den Kollegen, dem eine Rekordsaison gelingt. Nach und nach gerät Senn in eine mentale Abwärtsspirale, aus der es irgendwann kein Entkommen mehr gibt.
Zwerger ist Stürmer beim HC Ambri-Piotta. Als der Österreicher 2017 aus der kanadischen Juniorenliga in die Schweiz zurückkehrt, gewinnt der damals 21-Jährige nach einer persönlich überragenden Saison sogleich die Schweizer «Youngster des Jahres»-Auszeichnung. Danach ist er bei den Tessinern Jahr für Jahr ein zuverlässiger Skorer. Bis ihn am Ende der letzten Saison zwei Gehirnerschütterungen aus der Bahn werfen.
«Ich höre in der Regel lieber auf mich selbst, will mir selbst helfen.» Dominic Zwerger, Stürmer HC Ambri-Piotta
Bei Senn kommen die Probleme schleichend. Als fast nur noch Aeschlimann spielt, setzt er sich vor jedem seiner spärlichen Einsätze unter Druck. Er weiss, dass er auch von den Fans speziell beäugt wird. Und dass zu Hause im Wallis die Familie die Spiele am TV schaut, die Grossmutter jeweils für ihn eine Glückskerze anzündet. Für sie alle will er es erst recht gut machen. Geht das Spiel verloren, bestraft er sich dann aber – unabhängig davon, ob er mitschuldig an der Niederlage ist oder nicht. Die ständige Selbstbeschuldigung, die Abschottung, Senn weiss: «Diese Dinge sind nicht gut für den Kopf.» Er tut sie dennoch.
Bei Zwerger kommen die Probleme schnell, mit voller Wucht. Die erste Gehirnerschütterung Ende März beendet seine Saison mit Ambri. Als er sich später für die WM-Vorbereitung der Nationalmannschaft Österreichs anschliesst, meint er, die Verletzung auskuriert zu haben. Als er nach einem weiteren harten Check wieder eine Gehirnerschütterung erleidet, wird er bald ahnen, dass er vielleicht zu früh sein Comeback gab.
Und dann kommt, an einem Abend bei sich zu Hause, die erste Panikattacke über ihn, sie ist heftig. Sein Herz rast, auch für Zwergers Ehefrau ist es ein Schock, als er zu ihr sagt: «Fahr mich ins Krankenhaus! Ich glaube, ich sterbe!» Die Untersuchungen dort ergeben, dass ihm nichts fehlt. «Für den Moment beruhigt dich das», sagt Zwerger. Doch die Panikattacken am Abend kommen immer wieder. Bald schliesst auch er sich ein, tagelang in einen dunklen Raum, weil er es nur noch so aushält.
Irgendwann kommt bei beiden die Einsicht: So geht es nicht weiter. Es braucht bei beiden grosse Überwindung, um sich zu öffnen. Senn ist ein ruhiger, introvertierter Mensch, er sagt: «Mit anderen Leuten über meine Probleme zu reden, fiel mir schon immer schwer.» Bei Zwerger ist der Grund ein anderer, ein wenig Sturheit spielt da wohl auch eine Rolle: «Ich höre in der Regel lieber auf mich selbst, will mir selbst helfen.»
Senn vertraut sich bereits im Januar einer Mentaltrainerin an – ein Schritt, den er vor nicht allzu langem kaum für möglich gehalten hätte: «Mein Fokus war fast immer nur auf dem Körper und auf der Technik. Das Mentale schob ich ein wenig zur Seite.» Die beiden vertiefen ihre Arbeit, Senn nimmt die Hilfe auch im Sommer regelmässig in Anspruch. Bis heute kontaktiert er sie, wenn es ihm danach ist: «Das kann einmal im Monat sein, aber auch zwei- oder dreimal.»
Bei Zwerger ist es zunächst komplizierter. Er sucht unterschiedliche Hilfsmethoden, nicht alle haben die gewünschte Wirkung. Am Ende ist es ein Mix aus mehreren Mentaltrainern, Akupunktur und der Unterstützung von seinem Trainer, der ihn nach und nach aus seinem Tief holt und die Panikattacken seltener macht. Lange Zeit wissen im Club nur Luca Cereda und Sportchef Paolo Duca von seinen Problemen. Dass Cereda selber unter Panikattacken leidet, ihm seine Geschichte anvertraut und ihm aufzeigt, dass er sich nicht zu schämen brauche, hilft Zwerger auch: «Phasenweise rief er mich alle zwei Tage an, erkundigte sich bei mir, das schätzte ich sehr.»
«Ich tendiere dazu, mich 1000-mal zu hinterfragen.» Gilles Senn, Goalie HC Davos
Senn macht auch Fortschritte, weil ihm in den Therapien aufgezeigt wird, was er alles nicht mehr tun soll. Er bekommt zu hören, dass er niemals mit anderen Leuten so reden würde, so wie er über sich selber spricht. Selbstkritik sei wichtig, aber nicht so, wie er es bislang machte: «Ich tendiere dazu, mich 1000-mal zu hinterfragen.» Heute hilft Senn sich mit einem simplen Trick: Er schreibt nach jedem Spiel die schlechten Dinge auf, um sie bildlich erledigt und weggelegt zu wissen. Der Start in die neue Saison ist zwar harzig: Gleich zweimal verletzt sich der Goalie im Training. Zunächst erleidet er eine Gehirnerschütterung. Kaum gibt er sein Comeback, fällt er wegen Hüftproblemen aus. Doch als er endlich wieder zurück ist und mit Aeschlimann alternierend zum Einsatz kommt, ist da eine Konstanz in seinem Spiel zu sehen, die ihm früher kaum je gelang.
Zwerger schafft zwar sein erstes Ziel: Bis zum Saisonbeginn im September ist er bereit, die Panikattacken sind immer seltener geworden. Seine einzige Angst: eine Attacke mitten in einem Spiel, «weil ich dann nicht wüsste, wie ich reagieren soll».
Neben dem Eis hat er mittlerweile seine Routinen und Übungen, auf die er zurückgreifen kann, wenn es wieder einmal so weit ist. Doch die Leistungen in den Spielen stimmen nicht, aus dem Torschützen Zwerger wird ein Stürmer, der während 25 Spielen ohne Treffer bleibt. Es kommt Kritik auf, erstmals wird er in Ambri auch infrage gestellt. Es helfen ihm einerseits Trainer und Sportchef: «Beide sagten mir mehrmals, ich solle die Skorerpunkte vergessen, die seien vorerst egal. Ich solle spielen und Spass haben, alles andere werde dann von alleine kommen.» Andererseits erfährt er auch vom harten Kern der Ambri-Fans Unterstützung: «Sie schrieben Plakate für mich, kamen sogar ins Training, um mir zu sagen, dass sie hinter mir stehen würden. Auch dafür bin ich sehr dankbar.»
Und so sind Senn und Zwerger unterwegs auf ihrem Weg hinaus aus ihren Tiefs. Beide sind noch nicht ganz dort, wo sie sein möchten. Für den Goalie ist der nächste Schritt, die Konstanz eine ganze Saison lang beizubehalten. Zwerger will wieder der verlässliche Skorer werden. Seit gut zwei Monaten ist er ohne Panikattacken. Beide nehmen weiterhin Hilfe an, beim Stürmer sind es mittlerweile nur noch die wöchentlichen Akupunktur-Therapien. Und so unterschiedlich die Gründe für ihre Probleme waren, so sehr wissen beide heute, wie entscheidend es war, sich zu öffnen, die Sorgen nicht zu verdrängen. Oder wie es Zwerger formuliert: «Es ist so wichtig, mentale Probleme nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.»
Quelle: Tagesanzeiger